…klatscht sie immer noch.
Hallo lieber Leser! Schön, dass du da bist. Ich kann dir nicht versprechen, dass es ein interessanter Blogeintrag wird – denn wenn man ehrlich ist, passiert in meinem Leben gerade nicht sehr viel – doch ich werde mir größte Mühe geben! 🙂
Ich bin genau seit 155 Tagen in Argentinien (Stand. 16.06.) und seit 89 Tagen herrscht Ausgangssperre. Ergo befinde ich mich gerade schon 23 länger in Ausgangssperre als vorher in „Freiheit“. Aber was bedeutet das genau? Es bedeutet, dass wir seit 89 das Haus nur für Einkäufe, Arztbesuche oder Arbeit verlassen dürfen (die letzten beiden nur mit Bestätigung vom Arzt oder Passierschein der Regierung). Bis letzten Montag durfte man keinen Sport draußen machen. Man darf nicht spazieren gehen, man darf niemanden besuchen, Cafés und Restaurants sind natürlich ebenfalls für den eigentlichen Betrieb geschlossen (manche Lokalitäten sind für Abholungen geöffnet)…seit 89 Tagen. Als ich gesehen habe, dass Menschen in Deutschland auf die Straße gehen, um gegen die Maßnahmen der Regierung zu protestieren (die an keinem einzigen Tag so streng waren, wie das, was ich seit 89 Tagen erlebe), konnte ich nur mit dem Kopf schütteln. Das ist das gewohnte nicht-über-den-eigenen-Tellerrand-Hinausschauen einiger Menschen. Ich möchte mich hier allerdings gar nicht beschweren, denn ich habe mir selbst ausgesucht nicht nach Deutschland zurückzufliegen und meinen Auslandsaufenthalt in Argentinien nicht zu unterbrechen und ich bin mit meiner Entscheidung auch immer noch äußerst zufrieden, denn es geht mir gut. Ich LEBE in Argentinien, ich habe ein Dach über dem Kopf, genügend zu essen (vielleicht auch ein bisschen zu viel, wenn ich an die über Nacht plötzlich enger gewordenen Jeans denke…), genieße den warmen Herbst, führe tolle Gespräche mit Familie, Freunden und Kollegen, koche per Skype mit Freundinnen und bin mit der Arbeit mehr als beschäftigt.

Selbstverständlich erwarte ich trotzdem sehnlichst, dass die Maßnahmen gelockert werden. Eine Lockerung hat letzte Woche schon stattgefunden: man darf von 20 – 8 Uhr wieder joggen, fahrradfahren und inline-skaten. Joggen sogar ohne Mundschutz. Das habe ich alte Laufmaus natürlich sofort genutzt. Zugegebenermaßen ist das nicht gerade die beste Zeit (wir befinden uns gerade im Herbst/Winter) für Frauen alleine in einer Großstadt joggen zu gehen, aber anscheinend sind die Porteños (wie die Bewohner von Buenos Aires auch genannt werden) ein laufaktives Volk und so sind die Straßen und die wenigen Parks, die noch geöffnet sind, voll mit Joggern.
Der Wunsch nach kompletter Freiheit ist allerdings in den letzten Wochen in weite Ferne gerückt, denn nach einem sehr moderaten Verlauf der Infektionen stieg die Zahl der Neuinfizierten in den letzten drei Wochen drastisch an, vor allem in und um Buenos Aires. Woran das liegt? Die Regierung hat urplötzlich festgestellt, dass es ja viele Armenviertel in der Hauptstadt gibt und dass ‚viele der Einwohner auch nicht so gern zum Arzt gehen, weil sie es sich nicht leisten können. Außerdem war da ja noch was mit den hygienischen Bedinungen und den Wohnverhältnissen… Ja! Die sind dort ja miserabel… Hmm, man könnte vielleicht anfangen in den sogenannten villas/barrios populares/barrios vulnerables stringent zu testen.‘ So oder so ähnlich ist der Gedankengang vielleicht abgelaufen. Das Ende der Geschichte war, dass tatsächlich viele Infizierte bisher unbeachtet in den Villas vor sich hinlebten und das Virus weiterverbreiteten. In manchen Gebieten waren von mehr als 3.000 Getesteten 50% infiziert. Dabei darf man auch nicht aus den Augen verlieren, dass es ganz häufig Stromausfälle oder tagelang kein fließend Wasser gibt. Das macht es natürlich schwer den Empfehlungen der Regierung zu folgen und sich mehrmals täglich für ca. 40 Sekunden die Hände mit Wasser und Seife zu waschen…
Hier ein kleiner Einblick in die Villas, z.B. Villa Azul, Villa Itati oder Villa 31 – schnuckelig an der Stadtautobahn gelegen…
Villa 21-24 Villa azul Villa 31
Das heißt auch: Flexibilisierung für Buenos Aires ade! Abstandhalten wird überall großgeschrieben oder großgesprayed.

Während in 85% des Landes bereits der Umstieg von der Ausgangssperre zur Kontaktsperre stattfindet, ist man in der Hauptstadt leider noch weit davon entfernt.
Die meisten Infizierten in Argentinien finden sich in Buenos Aires Stadt (17.397) und Provinz, gefolgt von den Provinzen Chaco, Rio Negro und Córdoba. Landesweit beläuft sich die Zahl der Infizierten auf 30.282 und die der Verstorbenen auf 815. (Stand 15. Juni) Also entfallen derzeit mehr als die Hälfte aller aktiven Infektionen auf die Stadt Buenos Aires.
Es gibt natürlich auch Orte in Argentinien, die keine Neuinfizierten mehr melden (oder auch nie Infizierte hatten). Hier werde ich euch kurz von meinen eigenen Erfahrungen mit Tests bezüglich Corona berichten. Mitte März, als die Schule noch geöffnet war, wurde ich krank. Ich hatte starken Reizhusten. Ihr könnt euch vielleicht vorstellen, wie ängstlich ich als europäisch aussehende und stark hustende Frau zu einer Zeit betrachtet wurde, in der ein neuartiges Virus auftritt, dessen Hauptsymptome trockener Husten und Fieber sind. Da hat man im Bus/Zug sofort dreimal so viel Platz! Auf jeden Fall bin ich ins Hospital Alemán (genau dahin, wo nach dem Untergang des dritten Reiches auch viele Nazi-Ärzte unbehelligt Unterschlupf fanden – aber diesem dunklen Kapitel der Verbindungen zwischen Deutschland und Argentinien widmen wir uns zu einer anderen Zeit) gegangen zum Coronatest – das dachte ich zumindest. Nachdem ich meine Symptome geschildert hatte, wurde meine Lunge abgehört. Ich dachte, dass dann wohl die anderen Tests folgen würden, aber dem war nicht so. Das Abhören der Lunge blieb der einzige Test. Kein Abstrich, kein Fiebermessen, nada! Diagnose: Husten, kein Corona. Ich lebe also weiterhin mit der Ungewissheit, ob ich infiziert war oder nicht. 😀 Aber jetzt Schluss mit dem Schwank und weiter im Text.
Alle Bildungseinrichtungen in Argentinien wurden geschlossen. Was??? Alle??? Fast alle! Es gibt einen Ort in Argentinien, an dem die Schule nie geschlossen wurde und zwar im Argentinischen Antarktisterritorium! Sage und schreibe 14 Schüler können also im ganzen Land noch normal im Klassenzimmer unterrichtet werden. Der Rest hat Unterricht im virtuellen Klassenzimmer oder wenn’s ganz schlecht läuft gar keinen.

Vielleicht sollte man sich nicht nur die negative Konsequenz der Ausgangssperre (hier wird sogar von Quarantäne gesprochen) vor Augen halten, sondern auch mal den Fokus auf die positiven Veränderungen legen.
Eine der positivsten Auswirkungen für mich ist, dass sich mein Spanisch durch die Situation der Ausgangssperre fantastisch verbessert hat. Selbstverständlich bin ich immer noch weit von flüssigem Sprachgebrauch entfernt, aber die Hälfte der Tageszeitung verstehe ich immerhin schon. Pasito a pasito! Was sich in meinem Kopf dann immer abspielt, fasst dieser Satz treffend zusammen:
El Moment when you commence a pensar
en vier languages au mismo Zeit.
El quilombo total! Bildlich gesprochen begibt man sich als Fremdsprachenlerner in ein Sprachbad, wenn man in das Land der Fremdsprache in den Urlaub fährt oder dort lebt. Um bei bildlicher Sprache zu bleiben, handelt sich sich bei mir eher um einen sprudelnden Whirlpool als um ein ruhiges, entspannendes Bad. Ich wurde sozusagen gezwungen flugs Spanisch zu lernen: wern oder sterm war die Devise! Zum einen durch virtuelle Meetings mit Schulleitung und Kollegen, in denen es um die Organisation der virtuellen Klassenzimmer geht. Die ersten zehn Minuten des Meetings wird vielleicht noch darauf Rücksicht genommen, dass ich kein Muttersprachler bin, aber danach ist das vergessen und das argentinische Temperament wird sprachlich ausgepackt. Wenn dann noch eine schlechte Internetverbindung dazukommt und alle anfangen gleichzeitig zu quatschen, bin ich ganz schön am rudern! Zum anderen musste ich auch meinen Deutschunterricht mit den Fünftklässlern umstellen, deren Deutschkenntnisse ja noch am Anfang stehen. Was ich im realen Klassenzimmer durch Körpersprache, Bewegung im Raum oder an der Tafel im Handumdrehen erklären konnte, musste ich anders kompensieren und der effizienteste Weg war das auf Spanisch zu tun. Letzte Woche stand ich vor einem großen Test. Es war eine virtuelle Versammlung eines Schulleitung-Eltern-Lehrer Komités, in das ich als Vertretung der Deutschfachschaft berufen wurde. Jeder sollte kurz Licht und Schatten des virtuellen Unterrichts beleuchten. Noch nie hatte ich vor so vielen Erwachsenen (ca. 16) auf Spanisch gesprochen. Nervositätsgrad 100, weil man vor den Eltern ja auch nicht wie der letzte Hinterwäldler erscheinen möchte. Glücklicherweise kam mir eine Welle von Sympathie entgegen und das, was ich ausdrücken wollte, wurde verstanden. Ufff! Noch ein wenig komplizierter gestaltet sich die Situation bei realen Gesprächen momentan. Ich freue mich ja jedes Mal auf den kleinen Tratsch mit dem Obst- und Gemüsehändler um die Ecke, aber wie soll man sich verstehen, wenn jeder einen Mundschutz vor der Schnute trägt?! Die Regierung stellt mich mit ihren Maßnahmen vor eine große Herausforderung. Aber: challenge accepted! I bin ja niad aaf da Breensubbm dahergschwumma!
Apropos Spanisch…im Herbst 2019 habe ich aktiv begonnen Spanisch zu lernen, aber mein Blog heißt seit 2009 mariposalibre – der freie Schmetterling… Was hat mich damals dazu bewogen meinem Blog einen spanischen Namen zu geben, obwohl ich in diesem Jahr als Au- Pair nach Frankreich gegangen bin?! Wieso habe ich ihn nicht papillonlibre genannt?! Vor allem weil mir bis vor Kurzem Spanisch als Sprache gar nicht gefiel! Hm…manchmal passieren Dinge (positiv oder negativ), bei denen man erst viel später erfährt, wieso sie so passiert sind und dann entfährt einem ein leises „Ahhh“ und everything falls wonderfully into place.
Doch kommen wir wieder zurück zum Anfang. Bis zum 12. Juli ist die Ausgangssperre also noch offiziell verlängert worden. Und bis dahin wird sich wohl auch das tägliche Spiel des Klatschens wiederholen. Aber für wen klatschen wir denn? Zuerst haben wir für das medizinischen Personal geklatscht (bei denen das gar nicht so gut ankam – ‚mehr Geld wäre besser‘ war die Aussage), dann haben wir für alle geklatscht, die arbeiten und sich täglich dem Risiko einer Infektion aussetzen. Und jetzt klatschen wir vermutlich für uns selbst. Wir klatschen uns gegenseitig Mut zu. Es freut uns, dass wir dieses tägliche Date um 21 Uhr am Balkon haben, uns freudig begrüßen, kurz über das Wetter plaudern und uns dann mit einem „hasta mañana“ wieder voneinander verabschieden. Wer weiß, ob ich meine Nachbarn überhaupt ohne ihre Balkongitter auf offener Straße erkennen würde! So sehr habe ich mich schon an diesen Anblick gewöhnt…
In diesem Sinne: hasta pronto und bleibt gesund! Besitos!
