„Indem du dich schützt, schützt du Andere“ – das ist der Slogan zu 2020 – meinem ersten Jahr in Buenos Aires. Es ist Zeit ein Zwischenfazit zu ziehen. Wie sicherlich jeder von euch, habe ich mir 2020 auch ganz anders vorgestellt als es dann letztendlich kam. Ich hatte große Pläne den südamerikanischen Kontinent und allem voran Argentinien unsicher zu machen. Doch dann kam nach nur wenigen Wochen Schule der Lockdown, der zäh immer wieder um 3 bis 4 Wochen verlängert wurde und in seiner strengen Form bis circa Oktober anhielt. Und dahin waren sie, die großen Pläne …dann mussten eben neue her! Zuerst hatte ich endlos viel Zeit, mich um meinen Balkongarten zu kümmern, der tatsächlich oft mein rettender Anker war. A bissl in da Erdn ummananda grom und schauen, wie was wachst – des daugt mir! Als dann Lockerungen beschlossen wurden, war schon der Spaziergang im Viertel drin. Ich wohne an der Grenze zu San Telmo. Eines der ältesten Viertel und auch an Stellen etwas heruntergekommen, war es einstmals bevorzugter Wohnort der wohlhabenden Oberschicht. Eine Gelbfieber-Epidemie im 19. Jahrhundert führte dann zu einer Massenflucht in die nördlicheren Stadtteile, die damals noch gar nicht existierten. Wer es sich also leisten konnte, übersiedelte in den höherliegenden und vor Überschwemmung geschützten Norden, der heute die reicheren Stadtviertel bildet. San Telmo füllte sich dann mit der nachrückenden proletarischen Bevölkerung aus dem Stadtteil La Boca (dort, wo auch die Bombonera des Vereins Boca Juniors steht) und mit Einwanderern. Normalerweise ist dieser Teil der Stadt mit seinen gepflasterten Straßen und zum Flanieren einladenden kleinen Geschäften und tollen Cafés – nicht zu vergessen mit dem herrlichen mercado San Telmo – ein Touristenmagnet.
Irgendwann kam dann der Zeitpunkt, ab dem man sich frei in ganz BA bewegen durfte. Mittlerweile kenne ich große Teile der Stadt wie meine Westentasche und habe sie sehr zu schätzen gelernt. Glücklicherweise wird es in BA nie langweilig, da immer irgendwo etwas Neues zu sehen/finden ist. Die Hauptstadt Argentiniens hat im Grunde kein richtiges Zentrum, sondern jedes Viertel ist wie eine kleine Stadt. Da gibt es sehr touristische Viertel (z.B. San Telmo, Microcentro), hippe Viertel (z.B. Palermo oder Belgrano), reiche Viertel (z.B. Recoleta oder Puerto Madero) und natürlich auch normale Wohnviertel, die den größten Teil ausmachen.
Buenos Aires steht nie still. Das durfte ich am Mittwoch, den 26. November wieder einmal am eigenen Leib spüren. An diesem Tag starb Diego Armando Maradona: Nationalheld, Geächteter, Fußballstar, Freund der Frauen, Legende, Gott. Wenn es um Proteste oder Feierlichkeiten geht, versammeln sich die Porteños entweder am Obelisken auf der Prachtstraße 9 de Julio oder dem Palast des Präsidenten, der Casa Rosada.
Beides nur wenige Gehminuten von meiner Wohnung entfernt. Ich erkor den Obelisken als mein Ziel aus und pfeilgrood war schon eine Horde fahnenschwenkender Fußballfans vor Ort, um ihren Diego zu feiern. Mit meinem vorher noch besorgten Gerstensaft in der Hand habe ich mir das Spektakel angesehen. Fangesänge wurden angestimmt und von Corona war für ein paar Stunden nichts zu spüren. Es war wirklich eine Feier des Lebens. Von Trauer war nichts zu spüren.
Die Argentinier haben mir dort mal wieder eindrucksvoll bewiesen, wie findig sie sind, denn kaum waren ein paar Leute versammelt, kam schon einer, der Flaggen/Trikots verkaufte, der nächste brachte Bier für die trockenen Kehlen unter die Leute und es dauerte nicht lange, da stand auch schon ein Straßengrill parat. (3 Männlein vom Ordnungsamt wollten ihn verbieten, aber als protestierende Fußballfans ihr Recht diese parrilla dort stehen zu haben reklamierten und eine Traube um sie bildeten, zogen sie unverrichteter Dinge von Dannen).
Für die nächsten 3 Tage war Staatstrauer angesagt und die Fahnen hingen auf Halbmast. Bereits in der Nacht wurde El Diegos Leichnam ins Casa Rosada überführt. Diese Ehre konnte ihm nur zu Teil werden, weil Diego ein Speezl von Alberto war. (Alberto Fernández ist der derzeitige Präsident Argentiniens. Manchmal werden die Präsidenten nur beim Vornamen genannt ohne dabei weniger respektiert zu werden. Das ist in etwa wie wenn die Schüler mich Frau Johanna nennen.) Am folgenden Tag hatten die Menschen Zeit an Diegos geschlossenem Sarg ihrem großen Idol ein letztes Lebewohl mit auf die Reise zu geben. (Manche sind dafür etliche hunderte Kilometer angereist und/oder sind nicht zur Arbeit gegangen. Nur um dann mehrere Stunden in der Hitze zu stehen und in Tränen aufgelöst an einem geschlossenen Sarg vorbeizugehen. War Diego überhaupt drin?!) Ab 6 Uhr morgens wurden die Türen geöffnet und schon mal gleich von nichtmaskierten Rambos gestürmt. Wirklich gestürmt – da hatte die Polizei keinen Auftrag. (Vermutlich waren das Diejenigen, die vorher die ganze Nacht durchgezecht hatten.) Dieses Verhalten war selbst mir zu heiß und ich habe dem Geschehen dann nur noch per TV beigewohnt. Mehrere Tage lang wurde über nichts anderes in den Medien gesprochen: Lebensgeschichte, Live-Bilder, Fußballspiele, Interviews. Nach dem Sturm auf das Casa Rosada lief dann die Verabschiedung geregelter ab und man stelle sich fein mit Maske in die Schlange – das ist sowieso etwas, das Argentinier gerne und ohne Murren machen: Schlangestehen, vor dem Bus, vor dem Supermarkt, überall. Also alles friedlich bis bekannt gegeben wurde, dass um 16 Uhr Schluss ist, da sich die Familie noch in Ruhe verabschieden möchte. Zu dieser Zeit standen die Menschen aber noch einige Blocks weit an und waren verzweifelt, als die Polizei eine Sperre baute und somit signalisierte, wer noch darf und wer nicht. Daraufhin flogen Pflastersteine von der einen und Gummigeschosse von der anderen Seite und Johanna war froh, sich das Ganze nicht aus nächster Nähe angeschaut zu haben. Mit großem Polizeiaufgebot wurde der Sarg in Kolonne im Eiltempo durch menschengesäumten Straßen von BA geschleust.
https://www.youtube.com/watch?v=X3yMxTXmGGE
Und dann?! Nach dem Begräbnis war der Zauber eigentlich auch schon wieder vorbei. Die Berichterstattung flaute peu à peu ab, hier und da tauchten neue Wandmalereien auf, aber das war’s dann auch. Zwei Tage Ausnahmezustand. Argentinier bestätigten mir, dass es keinen lebenden Argentinier mehr gäbe, für den so ein Zinober gemacht werden würde. Da hab ich mich gefragt, wie oder vielmehr für wen das denn in Deutschland stattfinden würde und mir fiel niemand ein. Schon allein die Namensgebung ist anders, denn selbst der vielleicht größte deutsche Fußballspieler ist nur Kaiser und nicht Gott (D10S – Maradona trug die Rückennummer 10).
Dieser ganze Trubel und die eskalierenden Momente haben auch für viel Unmut gesorgt. Vor allem bei Menschen aus dem Bildungsbereich, denn ihr müsst wissen, dass die Schulen bis zu den Ferien Mitte Dezember nicht wieder regulär für Unterricht geöffnet werden konnten. Sie waren also von Ende März bis Mitte Dezember geschlossen – fast 9 Monate!! Glücklicherweise hat der Online-Unterricht in meiner Schule gut funktioniert, weil die Familien unserer Schüler die finanziellen Mittel besitzen, Tablets, Handys oder Laptops zu kaufen, mit denen die Schüler Zugriff auf den Unterricht haben. Beim Großteil der argentinischen Schulen sah das aber ganz anders aus. Da kann man wirklich von einem verlorenen Jahr sprechen. Wohingegen Fitnessstudios oder Sportvereine ihre Türen wieder öffnen durften, blieben die der Schulen zu. In meinen Augen und in den Augen Vieler ein riesengroßes Versäumnis. Da lief eindeutig etwas in der Priorisierung schief und das war auch wieder deutlich bei Maradonas Verabschiedung zu spüren. Die folgenden Zeilen kursierten daraufhin in den sozialen Netzwerken und beschreiben das Gefühl vieler Menschen ziemlich gut:
“Sinceramente nunca pensé en agradecerte algo que no tenga que ver con el fútbol, pero hoy siento que debo hacerlo. Gracias Diego por mostrarnos lo que somos, por desnudar el gobierno que tenemos. Por dejarnos en claro que tenemos un país que cuando nuestros abuelos agonizan y no tienen acceso a una ambulancia, vos tuviste 11 paradas en tu casa por horas. Es un país donde la policía no deje circular a una nena con cáncer y su padre la tuvo que alzar en brazos 5km, mientras vos tuviste cientos de policías haciendo una caravana para llevarte a Casa Rosada. Un país donde miles de personas (mi incluyo) no pudieron despedir ni velar a un ser querido pero vos tuviste una despedida multitudinaria y descontrolada. Si, es el mismo país donde este presidente nos tuvo encerrados 9 meses e hizo quebrar miles de empresas, donde muchos quedaron varados sin poder llegar a su hogar y donde tantos otros murieron en soledad, porque había una pandemia mortal. Gracias Diego por permitir que se muestre a flor de piel estas 2 Argentinas: una para famosos y políticos donde todo vale y otra para los ciudadanos comunes que tenemos que cumplir las reglas de aquellos que no las cumplen.”
Das habt ihr alles verstanden, oder? Eine Übersetzung ist also nicht nötig… Für diejenigen wenigen unter euch, bei denen das Spanisch vielleicht etwas eingerostet ist, alles nochmal auf Deutsch 😉
„Offen gestanden habe ich nie gedacht, dass ich dir für etwas danken würde, das nichts mit Fußball zu tun hat, aber heute fühle ich, dass ich es tun sollte. Danke Diego, dass du uns zeigst, wer wir sind, dass du die Regierung, die wir haben, entblößt. Dafür dass du uns klar aufzeigst, dass wir ein Land haben, in dem unsere Großeltern, wenn sie im Sterben liegen, keinen Zugang zu einem Rettungswagen haben, du aber stundenlang 11 Rettungswägen parat stehen hattest. Ein Land, das es einem krebskranken Mädchen nicht erlaubt sich mit öffentlichen Verkehrsmitteln fortzubewegen und ihr Vater sie deshalb für 5km tragen musste, während dich eine Karawane von hunderten Polizisten ins Casa Rosada eskortierte. Ein Land, in dem Tausende (mich eingeschlossen) sich nicht von einem geliebten Menschen verabschieden oder bei ihm Totenwache halten durften, aber du eine Massenverabschiedung außer Kontrolle hattest. Ja, es ist das gleiche Land, in dem uns dieser Präsident für 9 Monate eingesperrt hielt und tausende Unternehmen Bankrott gingen, in dem Viele gestrandet waren, die ihre Heimat nicht erreichen konnten und in dem so viele Menschen in Einsamkeit starben, weil es eine tödliche Pandemie gab. Danke Diego, dass du es möglich gemacht hast, dass sich diese zwei Versionen Argentiniens zeigen: eine für Prominente und Politiker, in der alles möglich ist, und eine andere für die normalen Bürger, die die Vorschriften der Menschen erfüllen müssen, die sie nicht erfüllen.“